Jon Kabat-Zinn im Gespräch mit Rudi Ballreich und Hanna Henigin

Prof. Jon Kabat-Zinn ist weltweit einer der führenden Experten, wenn es um die Anwendung der Meditation im Gesundheitsbereich geht. Er hat die Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) entwickelt und wissenschaftlich fundiert.

Trigon: Du hast vor mehr als 30 Jahren damit begonnen, die Achtsamkeitsmeditation als zentrale Methode bei der Therapie von schwer kranken Menschen einzusetzen. Daraus hat sich der weltweit anerkannte Ansatz des Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) ent-wickelt. Wodurch wirkt MBSR?

Kabat-Zinn: In unsere Stressklinik kamen sehr viele Menschen mit schlimmen Diagnosen wie Herzkrankheiten, Krebs oder auch Burnout. Sie erlebten viel Schmerz und eine große Ohnmacht ihrer Situation gegenüber. Wir arbeiteten mit ihnen daran, dass sie z. B. in ihrem Atmen und in ihrem Körper wieder die Gesundheitskräfte ihres Organismus erleben können. Und wir zeigten ihnen, wie sie durch die Achtsamkeitsmeditation in sich selbst ruhen und in eine tiefe Stille eintreten können. Denn wenn es gelingt, aus dem Zustand des Tuns in den Zustand des Seins zu kommen, dann wird das vegetative Nervensystem und damit die ge-samte innere Physiologie beruhigt und ausbalanciert. Und das wirkt gesundend.

Viele wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen in der Zwischenzeit, dass sich Menschen innerhalb des achtwöchigen MBSR-Programms nachhaltig verändern, obwohl sie jahrelang unter medizinischen Problemen gelitten haben. Neurobiologische Veränderungen durch Medi-tation sind im Hypocampus und im Limbischen System in der Amygdala z. B. direkt nachweisbar. Die Menschen entwickeln eine positive Beziehung zu sich selbst und zur Welt und das hat einen positiven Einfluss auf körperliche Prozesse und den Verlauf ihrer Krankheiten.

Trigon: Worum geht es eigentlich bei der Achtsamkeitsmeditation?

Kabat-Zinn: Es gibt Meditationspraktiken im Sitzen, im Liegen, im Stehen und im Gehen. Alle diese Praktiken haben das Ziel, den Bewusstseinsmuskel der Achtsamkeit (Mindfulness, A wareness) zu trainieren. Ich möchte das am Beispiel der Sitzmeditation zeigen. Wir setzen uns so hin, dass unser Körper Stabilität, Balance, Wachsamkeit und Ruhe ausdrückt. Dann lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf den Atem und folgen konzentriert dem Aus- und Einatmen.

Wenn wir ohne beurteilendes Denken, intim im Wahrnehmen und Spüren des Aus- und Ein-atmens von Moment zu Moment leben, dann stärken und entwickeln wir den Bewusstseins-muskel der Achtsamkeit. Mit der Zeit wird uns diese Bewusstseinskraft ein vertrautes Feld, in dem alle Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen – auch Schmerz und andere Turbulenzen des Lebens – „gehalten werden“, ohne dass die Tendenz da ist, sie verändern zu wollen. Die-ses Achtsamkeits-Kraftfeld ist nur in der Gegenwart, im Erleben von Moment zu Moment vorhanden und es ist gekennzeichnet durch eine Ruhe und Stille, die in Verbindung mit dem Sein ist.

Der Fokus der Meditation kann sich aber auch noch ausdehnen über den Atem hinaus auf das Spüren des Körpers, auf das Hören und Sehen sowie auf unsere Gedanken und den da-mit zusammen hängenden Emotionen. Wir schenken dem, was im Bewusstsein erscheint, unsere Aufmerksamkeit und lassen uns damit ein auf den jetzigen Moment, so wie er ist. Wir schließen  Frieden mit der Situation, so wie sie ist. Und je mehr wir mit dieser Dimension der Klarheit und Ruhe eins sind und unser Leben annehmen, wie es in diesem Moment ist, desto mehr können die Prozesse der Selbstregulation wirksam werden und uns transformieren. Denn tiefer gehende Veränderungen kann ich nicht mit meinem Willen „machen“, im Gegen-teil: Ich muss das kontrollierende und wollende Ego loslassen und mich dem anvertrauen, was „ist“.

Trigon: Ist das nicht eine Aufforderung zur Passivität?

Kabat-Zinn: Nein, im Gegenteil. Wer mit dem eigenen Sein und dem Sein der gegebenen Situation verbunden ist, dessen Handeln ist kraftvoll und passend zu dem, was notwendig ist.

Trigon: Das Erleben im jetzigen Moment spielt dabei eine entscheidende Rolle?

Kabat-Zinn: Ja, aber wenn Du darauf achtest, wo Dein Geist momentan ist, dann wirst Du sehr schnell entdecken, dass er die meiste Zeit mit Planen und Sorgen um die Zukunft be-schäftigt ist. Oder mit der Vergangenheit: Warum hat sich die Situation nur so schlecht entwi-ckelt? Früher war alles noch besser! Wer ist schuldig, dass es mir jetzt so schlimm geht?

Wenn wir beginnen zu erkennen, wie viel Zeit wir in der Vergangenheit und in der Zukunft verbringen, dann kann uns klar werden, dass der jetzige Augenblick jeweils der einzige ist, den wir zum Lernen, Wachsen, Entwickeln, zum Lieben und zum Verstehen der Realität ha-ben, ständig zusammengedrückt und ausgelöscht wird. Und wenn wir nicht anfangen, im „Jetzt“ aufzuwachen, dann verpassen wir das gesamte Leben. In unserem Krankenhaus ha-ben wir deshalb die Uhr mit einem Karton bedeckt, auf dem „Jetzt“ steht. So darf jeder wis-sen, dass es immer „Jetzt“ ist und dass jede Situation so ist, wie sie „Jetzt“ ist!

Trigon: Für Dich ist das Thema Mindfulness nicht nur in der Meditation wichtig, sondern auch im Alltag. Was heißt das konkret?

Kabat-Zinn: Es geht darum, sich der Routinen und Automatismen bewusst zu werden, die unser Verhalten prägen. Denn sie halten uns vom Erleben des jetzigen Moments fern. Was tun wir, wenn wir von der Arbeit nach Hause kommen? Habe ich Blickkontakt mit meiner Frau, mit meinen Kindern? Bin ich offen für die Begegnung jetzt im Moment? Oder muss ich zuerst meine Mails anschauen bzw. anderen Gewohnheiten oder Süchten folgen?

Trigon: Was können Führungskräfte vom Achtsamkeitsansatz lernen?

Kabat-Zinn: Eine Führungskraft sollte das leben und verkörpern, was sie von ihren Mitarbei-terInnen erwartet. Und sie sollte authentisch und emotional mit einer klaren Vision führen. Die Praxis der Achtsamkeit kann Führungskräften dabei helfen, in Kontakt zu kommen mit der eigenen Emotionalität, mit den eigenen Visionen und mit der eigenen Lebendigkeit, die zum authentischen Auftreten nötig sind. Eine große Herausforderung für Führungskräfte besteht zudem darin, die Menschen in den Organisationen dazu zu bringen, das zu lieben, was sie tun. Denn wenn sie lieben, was sie tun, dann ist ihnen die Arbeit wichtig. Und wenn die Leute hassen, was sie tun, können sie nie genug Geld bekommen, damit sie ihre Arbeit gut machen. Führungskräfte brauchen für diese Aufgabe aber einen Zugang zu ihren eigenen Fähigkeiten der Hingabe und Liebe. Die Praxis der Achtsamkeit ist dafür eine große Hilfe, denn sie öffnet nicht nur den Geist, sondern auch das Herz.

Natürlich gibt es Termine, Stress und viele Herausforderungen, aber durch die Achtsamkeits-praxis können Führungskräfte lernen, in der Gegenwart präsent zu sein und im „Sein“ zu ru-hen. In diesem Zustand hören die gewohnheitsbedingten Prägungen auf und der Raum der Kreativität und Imagination öffnet sich, in dem Führungskräfte neue und passende Ideen für ihr Handeln entwickeln können.

Trigon: Vielen Dank für das Gespräch!
Erschienen in Trigon Themen 03/2012